Das Wunder ist vollbracht. Die Geschichte ist erzählt. Der Krieg ist zuende. Vor uns liegt ein großartiges Konzeptalbum, dessen Kreation nicht weniger als 28 Jahre in Anspruch genommen hat. Ein Werk, dass sowohl damals wie heute zu der Faszination von SAGA beigetragen hat.
Aber für die Unwissenden unter uns ganz langsam: Die kanadischen Melodic-Progger SAGA gründeten sich im Jahre 1977. Bereits auf ihrem ein Jahr später erscheinenden, selbstbetitelten Debüt begann dann die Geschichte, die die immer größer werdende Fanschar zunächst bis zum Jahre 1981 – vermutlich aber noch weit darüber hinaus – zu den wildesten und phantastischsten Interpretationen diverser Songtexte der Band bewegte. Denn das Debütalbum war nicht etwa ein komplettes, schlüssiges Konzeptalbum. Nein! Mit den Chapters 4 und 6 bot die Band lediglich zwei Puzzlestücke an. Auf den nachfolgenden Alben, bis hin zum kommerziell erfolgreichsten Werk „Worlds Apart", ergänzte man die Story dann um jeweils zwei Teilstücke – natürlich nicht in chronologischer Reihenfolge. Aber damit nicht genug: Selbst die in die korrekte Reihenfolge gebrachten Lyrics ließen noch genug Interpretationsmöglichkeiten für wilde Spekulationen. Nach Chapter 8 war die Erzählung scheinbar zuende. Aber nur scheinbar!
SAGA hatten, zu ihrem eigenen Glück, der Geschichte ein offenes Ende verpasst. Nach etlichen musikalischen Experimenten in den Achtzigern und frühen Neunzigern, fand man mit dem Album „Full Circle" (1999) zurück zum klassischen SAGA-Sound – und zu den Chapters! Mit den Teilen 9,10 und 13 setzte man die zu Ende geglaubte Zukunftsvision fort. 2003 schloss man letztendlich den modernen Teil des Konzepts ab. Die nächsten acht Tracks der Konzeptsuite waren im Kasten – und das Rätselraten fing von Vorne an!
Auf der sich anschließenden Tour entschloss sich die Band, an jedem Konzertabend ein komplettes Chapters-Set zu spielen, d.h. entweder die Parts 1-8 oder 9-16. Bereits damals kam das Gerücht auf, die Band schneide ein paar Konzertabende für eine spätere Live-Veröffentlichung mit.
Und: Voila! Hier ist das fertige Album! Eine Live-Version der Konzeptsuite einzuspielen war schlicht die einzige Möglichkeit, die die Band hatte: Denn erstens kann sich im Zeitalter von Brennern und Rohlingen jeder Fan die Studioversionen der Chapters selbst in die korrekte Reihenfolge bringen, zweitens gehören SAGA schlicht zu den besten und erfahrensten Livebands unseres Planeten und drittens, so sollte sich herausstellen, würde Drummer Steve Negus die Band nach der Tour verlassen. Kurioserweise erscheint dieses Album zwei Jahre nach seiner eigentlichen Aufnahme, in einer verzwickten Situation: Christian Simpson, seit 2004 Ersatz für Steve Negus an den Drums, muss zur Mitte dieses Jahres seinen Ausstieg aus der Band aus gesundheitlichen Gründen bekannt geben. Ein Rätselraten um den neuen Schlagzeuger beginnt, das von der Band mit Hinweisen auf ihrer offiziellen Homepage noch hochgepusht wird. Da erscheinen wildfremde, skurrile Schwarz-/Weißfotos, da verschwindet einfach mal der Link zur Homepage von Steve Negus. Wer letztendlich auf dem bereits in der Mache befindlichen neuen Studioalbum hinter dem Schlagzeug Platz nehmen wird, ist nicht bekannt. Wird es vielleicht wieder Steve Negus sein? Dann wäre der Spannungsbogen und Veröffentlichungszeitraum perfekt!
Aber nun zurück zu „Chapters Live": Auf zwei Scheiben verteilt finden wir also die beiden großen Teile des Konzeptwerkes. Insgesamt hätte es mit seinen 80 Minuten Spielzeit auch gerade auf einen Silberling gepasst – die Trennung von „alten" und „neuen" Chapters macht aber, aufgrund der eigentlich nach Part 8 abgeschlossenen Story und den Jahren an Differenz zwischen den Songs, nur Sinn. Zur Performance auf der Platte an sich muss nicht allzu viel gesagt werden: Wer SAGA einmal live gesehen hat, weiß, dass sich die Jungs keine Fehler leisten und zur Freunde vieler Fans druckvoller agieren als auf ihren Studioalben. Das alte Material wirkt hier keineswegs angestaubt. Vielmehr ist zu erkennen, dass die ersten acht Chapters kompositorisch durchaus etwas mehr Klasse und Brillianz als die neueren Nummern aufweisen. Man bemüht sich zudem durch das Wiederholen und Wiederaufgreifen von Motiven (hier sei insbesondere auf das Intro von Chapter 16 hingewiesen) einen roten Faden zwischen den Songs herzustellen. Neuinterpretationen bekannter Tracks, z.B. die Piano-Version von „Not This Way" oder das um ein episches, ungemein gefühlvolles Gitarrensolo ergänzte „Images" sorgen für neue Impulse im bereits bekannten Songmaterial. Zudem wird die Platte durch ein fantastisches, klassisches SAGA-Cover, wunderschöne Bleistiftzeichnungen zu jedem Track und natürlich durch die vollständig abgedruckten Lyrics zu einer wirklichen schönen Angelegenheit für jeden SAGA-Fan. Lediglich ein kleiner Kritikpunkt bleibt erwähnenswert: Die Aufnahmequalität der zweiten CD erscheint mir komischerweise etwas schlechter. Der Sound kommt hier recht dumpf rüber.
Und jetzt, zum Abschluss, noch ein paar Worte zu der Story des Albums: Bereits nach einem Blick auf das Cover sollte klar sein, dass es sich um eine SciFi-Story handelt. Kern und Anfang der Geschichte ist, dass die Erde von Außerirdischen beobachtet wird, die sehr schnell die Gefahr erkennen, dass sich die Menschen mit ihrer Lebensweise auf kurz oder lang selbst zerstören werden. Sie beschließen, den Menschen zu helfen und sind der Überzeugung, dass sie einen menschlichen Ansprechpartner brauchen, der die Kommunikation zwischen ihnen und den Menschen regelt und die Verhandlungen führt. Wenn ihr einen Blick über die Tracklist schweifen lasst, könnt ihr vielleicht schon erahnen, welche historisch wichtige Person das sein könnte! Leider stellen sie fest, dass diese Person schon gestorben ist und müssen deshalb an sein Wissen, sprich Gehirn heran, um es auszuwerten und in ein Wesen ihrer Art zu „implantieren". Doch da kommen die Menschen ins Spiel, die mit ihrer schwierigen, egoistischen, rachsüchtigen Art etwas gegen die Pläne der Aliens einzuwenden haben. Und nun nimmt die Story ihren Lauf...
Ich hoffe, ich habe die Ebene der feststehenden Informationen zum Konzept jetzt nicht schon überschritten und bereits angefangen zu interpretieren. Es dürfte klar sein, dass ein solches Thema sehr viel gesellschaftliche, wirtschaftliche wie auch politische Auslegungsmöglichkeiten zulässt und zum Nachdenken anregen soll, inbesondere bei so offen formulierten Texten. Ein letztes noch: Die Story ist maßgeblich von dem Kalten Krieg und dem Tod eines berühmten Physikers beeinflusst worden, so Bassist und Chefdenker Jim Crichton.
Und nun möchte ich euch mit diesem überragenden Album, den einzigartigen Klangwelten von SAGA und der Geschichte um unsere Zukunft alleine lassen. Lasst euch gefangen nehmen von der surrealen Atmosphäre, den sphärischen Keyboards eines Jim Gilmour, den verträumten Gitarrenlicks eines Ian Crichton und der magischen Stimme eines Michael Sadler.
Und seit euch immer einer Sache bewusst: Jim Crichton spricht im Booklet von „Chapters Live" davon, dass die Geschichte noch lang nicht zuende seien muss, da sich die Menschen momentan in einer wichtigen Phase ihrer evolutionären Entwicklung befinden!
Redakteur: Sebastian Mack
Quelle: http://www.metal1.info/reviews/reviews.php?rev_id=1170